Kommentar: Zum Verzicht des DLV auf Entsendung einer 4x400m Staffel

 

Der Verzicht des DLV auf die Entsendung einer 4x400m Staffel zu den Hallen-Europameisterschaften in Göteborg ist nicht nachvollziehbar. Er ist ein Zeichen, an dem manches grundsätzliches Problem der Leichtathletik deutlich wird, und das mich zu diesem Kommentar veranlasst – ganz unabhängig von der Vereinszugehörigkeit der Athleten, die von der Nichtentsendung betroffen sind.

 

Der erste Grund dafür, warum die Nichtentsendung der Staffel nicht nachvollziehbar ist, ist die Tatsache, dass die Qualifikationserfordernisse durch die Platzierung der deutschen Staffel unter den besten fünf europäischen Staffeln der Freiluftsaison 2012 erfüllt waren. Den Athleten und Trainern wurde dies von Vertretern des DLV vor Beginn der Hallensaison bestätigt. Mit ihrer Bronzemedaille bei den Freiluft-Europameisterschaften in Helsinki belohnte die deutsche Staffel der Viertelmeiler auch den DLV und ähnliches peilte sie realistisch in der Halle an.

Zudem ging die Erfüllung der Qualifikationserfordernisse mit einer Einladung des Europäischen Leichtathletik-Verbandes einher. Die Einladung eines Gastgebers auszuschlagen, kann ohne die Angabe guter Gründe unhöflich wirken. Und gute Gründe für die Nichtentsendung bleiben aus.

Die Begründung des DLV, auf die Entsendung einer 4x400m Staffel wegen „unzureichender Leistungsdarstellung“ in den Einzelleistungen zu verzichten, ist für mich ein ungültiges Argument. Es ist sachfremd. Einzelnormen spielen für eine Staffel keine Rolle. (Besonders dann nicht, wenn die Staffel die Qualifikationserfordernisse erfüllt.) Eine Nation, die einen Sportler besitzt, der die 400 Meter knapp unter 40 Sekunden laufen kann, gewinnt mit ihrer Staffel keine Medaille auf internationalen Meisterschaften, wenn die anderen drei Starter pro Stadionrunde eine Minute brauchen. Der Staffellauf über viermal 400 Meter ist eine andere Disziplin als die 400 Meter.

Ad absurdum geführt wird diese vom DLV vorgebrachte Begründung, wenn Athletinnen und Athleten – es sei ihnen persönlich aufrichtig von Herzen gegönnt – nominiert werden, die keine Normerfüllung vorweisen können. Hier läge ja in Bezug auf die zuvor angesetzte Norm tatsächlich eine „unzureichende Leistungsdarstellung“ vor.

Die Entscheidung, auf eine 4x400m Staffel mit Medaillenaussichten und bei sechs Teilnehmern relativ sicherer TOP-6-Platzierung bei Hallen-Europameisterschaften zu verzichten, ist ein Symptom für die Krankheit der Leichtathletik, in der Öffentlichkeit nicht mehr den Stellenwert zu besitzen, den sie besitzen könnte.

Deutsche Leichtathleten erlangen häufig nicht den Bekanntheitsgrad, den sie vielleicht verdienen. Darunter leiden natürlich die Athleten, mit ihnen aber auch die Vereine. Für die Vereine sind Athleten mit internationalen Aussichten oder Teilnahmen wichtig für die Außendarstellung, mithin für ihre Existenz als spitzensportfördernde Vereine.

Ohne die wertvolle Arbeit der Vereine an der Basis stünden die Verbände und Ausrüster sehr bald ohne die ab internationaler Würdigkeit auch für sie interessanten und marketingtechnisch ummünzbaren Athleten da. Die Nachwuchsarbeit und Talentförderung beginnt aber in den Vereinen und bei ihren (sehr häufig ehrenamtlichen) Trainern. Und es ist unendlich viel schwerer, eine gute Nachwuchsarbeit zu vermarkten als einen ausgewachsenen Usain Bolt, der (zumindest in Deutschland) auch bei einem „e.V.“ und einem passionierten Heimtrainer seine Entwicklung begonnen und evtl. sogar mit Titeln für den nationalen Verband oder Siegen für den Ausrüster gekrönt hätte. Vor diesem Hintergrund sind Entscheidungen, für internationale Meisterschaften qualifizierte (!) Athleten nicht zu diesen zu schicken, auch Ausdruck eines zu überdenkenden Verhältnisses vom Verband zu den Vereinen. „Was ihr sät, werdet ihr ernten“ ist für Vereine leider nicht immer die Wahrheit.

Man kann in diesem Zusammenhang auch die Strategie des DLV hinterfragen, die Anforderungen für eine Teilnahme an internationalen Meisterschaften bzw. Olympischen Spielen schärfer zu formulieren als die je für diese Wettbewerbe verantwortlichen internationalen Verbände. Nicht nur ist es unschätzbar wertvoll für die Entwicklung eines Athleten, internationale Erfahrungen zu sammeln, wozu er bei Erfüllung der internationalen Norm zumindest aus Sicht des internationalen Verbandes berechtigt wäre. Sondern auch ist es für die meisten deutschen Leichtathleten, von denen heutzutage leider (oder im Sinne eines allseits erwünschten sauberen Sports Gott sei dank) nur die wenigsten Olympiasieger werden, der Höhepunkt ihrer Athletenkarriere.

Daher ist die Nichtentsendung der Staffel umso bedauerlicher.

 

Kann man sich als deutsche Leichtathletik erlauben, alles zur Durchgangsstation für höhere Aufgaben und Weihen zu definieren? Ich glaube, die deutsche Leichtathletik sollte die Feste feiern, wie sie fallen. Und die Teilnahme an einer Hallen-Europameisterschaft ist schon eine größere Party.

 

Wenn man nämlich immer alles zur Durchgangsstation erklärt, beraubt man die entsprechende Veranstaltung ihrer Wertigkeit. Wer die Hallensaison als Athlet oder Trainer schon nicht ernst nimmt, kann nicht erwarten, dass Fernsehanstalten sich dafür interessieren, dass Nachwuchs begeistert, Stammpublikum zufriedengestellt oder neues Publikum erschlossen wird. Wer als Athlet regionale Meisterschaften links liegen lässt, um dann an der Qualifikation für die Olympischen Spiele zu scheitern, der kann nicht darauf zählen, dass ein Publikum die Leistung adäquat (ein-)schätzt. Ich glaube, dass wir in Deutschland mehr Straßenleichtathleten brauchen: Athleten, die auch ohne offizielles Schiedsgericht gegeineinander antreten würden, die jeden Wettkampf so ernst nehmen, dass er auch von seinem Publikum ernstgenommen werden kann.

Wenn diese Einstellung zum Wettkampf entwickelt werden kann, dann sind die Athleten automatisch regelmäßig präsenter. So etwas wie eine Liga oder einen Weltcup, über die oder den die Zuschauer über Wochen und Monate hinweg eine Beziehung zu ihren Sportlern aufbauen können, so dass irgendwann sogar eine Rodelstaffel als interessant wahrgenommen wird, gibt es für die meisten Leichtathleten nicht.

Als Verein bemühen wir uns, unsere Topathleten unserem Zielpublikum zu präsentieren. Unter anderem deshalb haben wir ein sehr attraktives Prämiensystem für Bayerische Meisterschaften aufgelegt, durch das sich das Interesse an unseren Landesmeisterschaften bereits ein halbes Jahr vor deren Austragung schlagartig erhöht hat. Wir kommen unserer Verantwortung als Verein also nach.

Die Chance, seine Athleten zu internationalen Meisterschaften zu schicken, sollte man als DLV im Sinne der Leichtathletik nicht verpassen. Vor allem, solange jene in der Gunst der Medienanstalten und infolgedessen des breiten Publikums noch höher anzusiedeln sind als Regionalmeisterschaften.

Leichtathletik ist eigentlich eine Sportart ohne B-Noten. Es gibt Zeiten, Weiten und Höhen, nach denen sich Athleten eindeutig platzieren, nach denen sie Qualifikationsnormen schaffen oder an ihnen scheitern. Die Nachvollziehbarkeit des Schneller, Höher, Weiter verschafft den Ergebnissen dieser relativ simplen Sportart Objektivität. Und die macht wiederum einen Aspekt ihrer Attraktivität sowohl für die Athleten als auch das Publikum aus. Diejenigen gewinnen, die als erste die Ziellinie überqueren, am weitesten oder höchsten werfen oder springen. Nominierungen sind nicht derselben Willkür ausgesetzt wie die für eine Fußballnationalmannschaft, für die 80 Millionen Deutsche genauso gute Bundestrainer sind wie der amtierende.

Meines Erachtens sollten alle, die sich für die Zukunft der leider immer weniger im Fokus der öffentlichen Wahrnehmung stehenden olympischen Kernsportart Leichtathletik verantwortlich fühlen, deren simples Wesen als unique selling proposition betonen und zum Prinzip ihrer Entscheidungen machen. Entscheidungen „der“ Leichtathletik, die nicht einmal Leichtathleten nachvollziehen können, machen es ihrem Restpublikum und den potentiell interessierten Betrachtern sehr schwer.